KÜNSTLICHE MENSCHEN UND LEBENDE STATUEN
Rudolf Henneböhl referiert im Mariengymnasium Warendorf über Ovid und erklärt, warum dessen Dichtung menschliche Allmachtsfantasien vorwegnimmt.
Von Gerold Paul
Wer von dem Ungeheuer erzählt, erzählt zugleich von dem fähigen Wissenschaftler, der es zusammengeschweißt hat. Einen modernen „Prometheus“ nennt ihn Mary Shelley, die Autorin des Horrorklassikers. Der Name des Schöpfers ist auf das monströse Geschöpf übergegangen: Frankenstein. Viktor Frankenstein spornt die Wunschvorstellung an, dass die Menschen über ihre Geschöpfe beliebig verfügen können. Schon Ovids berühmte Dichtung, die Bücher der „Verwandlungen“ sind von der Vorstellung erfüllt, dass der Mensch fähig ist, künstliche Wesen zu erschaffen.
Rudolf Henneböhl, frisch pensionierter Lehrer für Latein, Religion und Philosophie und Gründer des Ovid-Verlags, referierte zwei Unterrichtsstunden lang vor den Lateinkursen der Oberstufe des Mariengymnasiums Warendorf über den Pygmalion-Mythos. „Pygmalion formt sich eine Traumfrau aus Elfenbein, weil er von den natürlichen Frauen enttäuscht ist!“, wussten die Schülerinnen und Schüler bereits aus dem Unterricht. Rudolf Henneböhl erläuterte ihnen, warum der von Ovid „ambivalent“ dargestellte Bildhauer als Pate dafür stehe, dass der künstliche Mensch den natürlichen ablösen könne.
„Was ist Ihr Lieblingsmythos?“, wollte Schülerin Greta Hövelmann aus der Q2 in der Abschlussrunde erfahren. Henneböhl räumte ein, dass ihm der Pygmalion-Mythos sehr ans Herz gewachsen sei, da er die Frage aufwerfe, was den Menschen vom Androiden unterscheidet. Der Lateinunterricht vermittele damit indirekt eine komprimierte Lehre vom Menschen.