GEFANGEN HINTER GRENZEN

Drei Schülerinnen des Mariengymnasiums zeichnen das Leben der Zeitzeugin Katharina Leendertse anhand eines Gesellschaftsspiels nach

Von Joe Rieder. In: „Die Glocke“ vom 20. Juni 2025

(jor) Es ist ein Spiel mit den unterschiedlichsten Elementen, die das Leben eines Menschen berühren können. Liebe, Glück, Unterdrückung, Hilflosigkeit, Angst und sogar Haft und Folter. Ein Spiel, bei dem das Ende bereits vorher feststeht und ein Spiel – so erfahren es die Spieler am Ende – das immer das gleiche Ende nimmt, egal für welche Züge sie sich im Lauf des Spiels auch entscheiden.

Seltsam ist: Sie können nicht und Nichts gewinnen. Sie können es nur spielen, mit einer Spielfigur, alleine. Und doch ist ihr Gewinn unermesslich, denn mit jedem Spielzug lernen sie etwas über die deutsche Geschichte, in einer Form, wie es der Schulunterricht wohl kaum zu vermitteln vermag.

Drei Schülerinnen des Mariengymnasiums Warendorf (MGW) haben dieses Spiel gemeinsam mit ihrer Lehrerin entwickelt. Entworfen hat es das Schicksal jener Frau, deren Leben es nachzeichnet: Katharina Leendertse. Geboren 1938 in Hohenstein-Ernstthal am Rande des Erzgebirges, bekannt als Geburtsort des Schriftstellers Karl May. Bei ihrer Geburt war dies Deutsches Reich, später DDR, jetzt Sachsen.

1955, als die DDR noch einfach nur „der andere Teil Deutschlands“ war, lernte sie in „Westdeutschland“ ihren späteren Mann Albert kennen und lieben. Womit sie nicht rechnen konnten, war der 13. August 1961, der die Welt veränderte: Die Staatsmacht der DDR ließ die Mauer errichten, die Bürger der DDR waren „Gefangen hinter Grenzen“, so der Titel des Spiels.

Leendertse lebte im Osten, ihr Verlobter im Westen. Was folgte war der Versuch, am 14.2.1964 mit einer studentischen Fluchthilfeorganisation „Republikflucht“ zu begehen, wie das sozialistische Regime den Wunsch seiner Bürgerinnen und Bürger nach Freiheit nannte. „Aus Liebe“, wie ihr Verteidiger später argumentierte. Die Flucht misslang, weil ein Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Staatssicherheitsdienstes Teil der Fluchthilfegruppe war und den Plan verriet.

Lebensstationen auf dem Spielfeld

Es folgten Festnahme, Inhaftierung, Verhöre, Folter, Gerichtsverfahren, Haft. Diese Stationen werden bereits auf dem großen Spielfeld deutlich. Was das Feld nicht zeigen kann, sind die Folgen der brutalen Behandlung, der psychischen Erniedrigung, die für die Betroffene bereits Post-Traumatisches Belastungssyndrom waren, bevor dieses Wort es überhaupt in den deutschen Sprachschatz geschafft hatte. Aus ihrer Haftstrafe von einem Jahr und sechs Monaten wurde sie von Deutschland nach sechs Monaten für 40.000 DM freigekauft.

Damit ist das Spiel nicht zu Ende, ebenso wie diese Zeit für Leendertse, die vielfach bereits als Zeitzeugin über ihr Leben berichtet hat, nicht zu Ende ist. Sie verfolgt sie noch heute.

Dass sie trotzdem darüber spricht, hat sich für Romy Amsbeck, Emma Pfau und Freya Vorwerk als Glücksfall für ihre Teilnahme am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten erwiesen. „Wir haben sie angeschrieben und sie hat glücklicherweise zurückgeschrieben“, freuen sich die drei Schülerinnen noch heute über das, was sie, gemeinsam mit der Zeitzeugin und Lehrerin Dr. Stephanie Taube, „in sehr vielen Stunden“, wie sie sagen, erreichen konnten. Ohne KI, betonen sie. „Ihre Zeitzeugin“, wie sie Frau Leendertse nennen, zeigt sich vom Ergebnis stark beeindruckt. Das sei sie aber auch schon gleich zu Beginn gewesen, als sie sah, „in welcher Weise sich die jungen Damen damit beschäftigt haben“.

Das Ergebnis hat auch die Jury beeindruckt, denn Romy, Emma und Freya erhielten nicht nur im Unterricht eine „Eins“, sondern auch einen Landesförderpreis, die zweithöchste Auszeichnung, die bei diesem Wettbewerb erreichbar war. Das nicht für kommerzielle Zwecke entwickelte Spiel wurde bislang nur in sehr kleiner Auflage für die Entwicklerinnen sowie das MGW hergestellt. Vorstellbar ist, dass sich auch andere Schulen dafür interessieren und auch die Warendorfer Büchereien Interesse daran haben, stellvertretend für viele Schicksale in der DDR, Leben und Schicksal der Warendorfer Zeitzeugin bekannter zu machen.

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